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Situation der Sozialgerichte in Brandenburg ist noch Besorgnis erregender geworden

- Erschienen am 18.01.2012 - Presemitteilung 20120118

Gemeinsam mit den Direktoren der vier Sozialgerichte Brandenburgs hat sich die Präsidentin des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Monika Paulat, heute in einem Pressegespräch zur Situation der Sozialgerichtsbarkeit in Brandenburg nach Ablauf des Jahres 2011 geäußert.

Je gesondert – und mit unterschiedlichem Befund – sind einerseits die vier Gerichte der ersten Instanz (unten I.) sowie andererseits das Landessozialgericht (unten II.) zu betrachten.

I. Die Situation an den vier Brandenburger Sozialgerichten in Potsdam, Neuruppin, Frankfurt (Oder) und Cottbus ist – gemessen an den Vorjahren – noch Besorgnis erregender geworden. Die Fieberkurve steigt. Die Hartz IV-Klagewelle hält damit unvermindert an und hat – gegenüber dem Vorjahr – zu einer erneuten Steigerung der Eingangszahlen geführt, nämlich um 13,2 Prozent auf 24.187 neue Verfahren im Jahre 2011. Dem stehen 20.782 im Jahre 2011 erledigte Verfahren gegenüber. Hieraus resultiert am Ende des Jahres 2011 ein Aktenberg von 31.513 unerledigten Verfahren, was einer Steigerung von 12,1 Prozent gegenüber dem 31. Dezember 2010 entspricht. Auf jede Richterstelle entfällt im Durchschnitt eine Belastung mit ca. 510 Akten, was weit über den Zahlen anderer Sozialgerichte liegt. Die vier Sozialgerichte müssten für mindestens eineinhalb Jahre schließen, um den Aktenberg restlos abzutragen.

Von den 24.187 Neueingängen im Jahre 2011 entfallen allein 15.001 auf den Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende („Hartz IV“), mithin fast zwei Drittel. Diese hohe Zahl hängt unmittelbar zusammen mit der Arbeit der zuständigen Behörden vor Ort. Während beispielsweise aus dem Zuständigkeitsbereich des Jobcenters Teltow-Fläming vor wenigen Jahren noch mehrere tausend Klagen bei dem Sozialgericht Potsdam anhängig waren, hat sich diese Zahl drastisch vermindert, weil das Jobcenter besondere Anstrengungen im Bereich der Bürgerfreundlichkeit und der Sachbearbeitung ergriffen hat („Pirmasenser Modell“).

Eine nachhaltige Erhöhung des richterlichen Personals ist bisher nicht eingetreten: Im Gegenteil hat sich die Zahl der tatsächlich vor Ort tätigen Richter (unter Einberechnung von Teilzeitstellen) von 64,6 am 31. Dezember 2010 auf 61,35 am 1. Januar 2012 verringert. Dabei ist schon berücksichtigt, dass das Sozialgericht Cottbus zu Beginn des neuen Jahres mit einem Lebenszeit- und einem Proberichter aus der Zivilgerichtsbarkeit im Abordnungswege verstärkt worden ist.

Den Sozialgerichten wäre spürbar geholfen, wenn die im Jahre 2010 (und damit um Jahre zu spät) in den Brandenburger Haushaltsplan eingestellten zusätzlichen 27 Planstellen für Sozialrichter sich tatsächlich realisierten. Von diesen 27 Stellen sind vier Planstellen noch immer nicht der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesen. Zwei weitere Planstellen werden für wechselwillige Richterinnen und Richter aus anderen Gerichtsbarkeiten frei gehalten. Die Präsidentin des Landessozialgerichts und die Direktoren der Sozialgerichte sind sich darüber einig, dass die Eingangs- und Bestandssituation an den Brandenburger Sozialgerichten wenigstens die vollständige Nutzung der 27 zusätzlichen Planstellen erfordert.

Hoch problematisch ist auch die Situation im nichtrichterlichen Bereich. Auch hier ist die Zahl der Arbeitskräfte gesunken, nämlich von rund 111 (Ende 2010) auf rund 105 (Ende 2011). Angesichts des immer weiter wachsenden Aktenbestandes ist die Arbeit vielerorts nur noch stark verzögert zu bewältigen.

Mit dem immensen Bestand unerledigter Verfahren drohen die erstinstanzlichen Gerichte ihrer Aufgabe, den Bürgerinnen und Bürgern zeitnahen effektiven Rechtsschutz zu gewähren, nicht mehr gerecht zu werden. Folge der Extrembelastung ist unweigerlich eine Verlängerung der Verfahrensdauern, nicht nur im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende, sondern auch und gerade in den klassischen Sparten des Sozialversicherungsrechts wie etwa der Renten-, Unfall- oder Krankenversicherung.

Den Sozialgerichten ist es im Laufe des Jahres 2011 zwar gelungen, den Berg der Altverfahren (Anhängigkeit bei Gericht länger als drei Jahre; 668 im Oktober 2011 gegenüber 772 dem Oktober 2010) leicht zu verringern. Prognostisch wird sich diese Tendenz aber nicht halten lassen. Umso problematischer ist dies im Hinblick auf das im Dezember 2011 in Kraft getretene „Gesetz zur Verbesserung des Rechtsschutzes bei überlangen Verfahrensdauern“, das im Fall der Erfolglosigkeit einer zunächst zu erhebenden „Verzögerungsrüge“ eine Entschädigungsklage vorsieht. Erste Verzögerungsrügen sind bereits erhoben worden; angesichts der Zahl der Altverfahren ist mit erheblicher zusätzlicher Arbeit für die Gerichte zu rechnen. 

II. Als Berufungs- und Beschwerdegericht befindet das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg in Potsdam sich auch nach Ablauf des Jahres 2011 weiterhin in einer insgesamt stabilen Situation.

Mit insgesamt 5.147 Eingängen bewegten die Zahlen sich 2011 auf dem Niveau des Vorjahres.

Auch der am Ende des Jahres noch offene Bestand an unerledigten Verfahren (5.152) war so hoch wie ein Jahr zuvor. Davon entfallen 1.321 (25,6 Prozent) auf die Sparte der Grundsicherung für Arbeitsuchende („Hartz IV“). Die zahlenmäßig stärkste Sparte am Landessozialgericht mit allein 1.482 offenen Berufungen ist die Rentenversicherung. Der – gemessen an der Situation in der ersten Instanz – verhältnismäßig geringe Anteil der Hartz IV-Streitigkeiten ist damit zu erklären, dass Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Entscheidungen von Gesetzes wegen überhaupt nur gegeben sind, wenn der Beschwerdewert 750 Euro übersteigt.

Allerdings gab es im Bereich der Eilverfahren (Beschwerden gegen erstinstanzliche Eilbeschlüsse der Sozialgerichte) eine signifikante Zunahme um 34,7 Prozent gegenüber 2010: Während 2010 noch insgesamt 919 Eilverfahren bei dem Landessozialgericht eingegangen waren, erhöhte sich diese Zahl im Jahr 2011 auf 1.238, davon allein 869 aus dem Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende und 144 aus dem Bereich der Sozialhilfe.

Am Landessozialgericht Berlin-Brandenburg arbeiten derzeit 56 Richterinnen und Richter; sie sind im Durchschnitt jeweils für rund 92 Streitsachen zuständig.

Im Jahr 2011 ist es am Landessozialgericht gelungen, den Bestand der Altverfahren deutlich zu reduzieren: Im Vergleich zum Vorjahr ergab sich eine Verminderung der Altverfahren von 269 auf 136 (Stand Oktober 2011).

Info:

Das Landessozialgericht veröffentlicht jährlich im Laufe des März einen Geschäftsbericht zum abgelaufenen Geschäftsjahr mit ausführlichen Statistiken und detaillierten Berichten aus allen Sparten der Rechtsprechung. Auf der Internetseite des Gerichts (http://www.lsg.berlin.brandenburg.de) sind derzeit die Geschäftsberichte bis einschließlich 2010 abrufbar. Auf der Internetseite sind ebenfalls diverse Pressemitteilungen zu verschiedenen wichtigen im Jahre 2011 abgeschlossenen Verfahren dokumentiert, z.B. in Bezug auf Mindestmengen für die Versorgung Frühgeborener in Geburtskliniken, Festbeträge für Arzneimittel, den Streit um die Berliner Treberhilfe, die Aberkennung der Entschädigungsrente für Markus Wolf und „Scheinselbständige“ im Bundesrat.

Das Sozialgericht Berlin, für das das Landessozialgericht in Potsdam ebenfalls als Berufungs- und Beschwerdegericht fungiert, hat in einer Pressekonferenz vom 11. Januar 2012 gesondert über seine Situation berichtet. Die Ansprache der Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, Frau Sabine Schudoma, ist dokumentiert unter http://www.berlin.de/sen/justiz/gerichte/sg/presse/archiv/20120111.1330.364841.html.

Für Rückfragen:

RiLSG Axel Hutschenreuther, Pressesprecher, RiLSG Sebastian Pfistner, stellv. Pressesprecher, Tel.: 0331/9818-3300 Mail: pressestelle@lsg.brandenburg.d