Entscheidungen zum Recht der Unfallversicherung
- Erschienen am - PresemitteilungIn Zeiten der intensiven Diskussion über das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende („Hartz IV“) darf nicht in den Hintergrund treten, dass die Sozialgerichtsbarkeit sich täglich auch mit den klassischen Feldern der gesetzlichen Sozialversicherung zu befassen hat.
In der Sparte der Unfallversicherung hat der 2. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg kürzlich zwei erwähnenswerte Entscheidungen getroffen; die Urteilsgründe liegen vor und sind auf der Internetseite des Landessozialgerichts als Anhang zu dieser Pressemitteilung im Volltext abrufbar.
Chemiekombinat Bitterfeld: Gericht würdigt Stasi-Unterlagen
Im Verfahren L 2 U 294/08 stritten der Kläger bzw. nach dessen Tod seine Erben um die Zahlung einer Verletztenrente aus der Gesetzlichen Unfallversicherung. Der im Jahre 1932 geborene M. war seit 1950 im VEB Chemiekombinat Bitterfeld als Arbeiter, Brigadier, Kaderinstrukteur und später als Meister in den Abteilungen Chlorbarium, Chlor I und Chlor III beschäftigt gewesen. Während seiner Berufstätigkeit war er u.a. dem Kontakt mit Chlor und Quecksilber ausgesetzt und litt seit 1964 unter chronischer Bronchitis. Seit 1981 bezog M. eine Invalidenrente. Er litt unter gravierenden Beeinträchtigungen von Lunge und Herz, was er u.a. auf Störungen im Betriebsablauf und Chloraustritte zurückführte, bei denen die sonst üblichen Raumluftwerte um ein Vielfaches überschritten worden seien.
Die beklagte Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie in Halle lehnte es ab, das Leiden des M. als Berufskrankheit anzuerkennen und führte es wesentlich auf dessen langjährigen erheblichen Zigarettenkonsum zurück; zudem hätten die vorliegenden Messprotokolle über die Chlorgasexposition keine Überschreitung von Grenzwerten gezeigt. Das Sozialgericht Frankfurt (Oder) und ihm folgend der 2. Senat des Landessozialgerichts Berlin Brandenburg (Urteil vom 21. Januar 2010) schlossen sich dieser Sichtweise nach umfangreicher Beweiserhebung nicht an, sondern bewerteten die Leiden des M. als Berufskrankheit. Gewürdigt wurde dabei u.a. Material, das die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR vorgelegt hatte. Diesen teilweise als „streng geheim“ klassifizierten Unterlagen lasse sich anschaulich entnehmen, welche erhebliche Gefährdung durch Chlor im Chemiekombinat Bitterfeld bestanden habe. Belegt sei ein desaströser Zustand der Produktionsanlagen. Alles spreche dafür, dass auch M. Grenzwertüberschreitungen und Havariesituationen ausgesetzt gewesen sei; seine Leiden seien damit maßgeblich als Langzeitwirkung einer erhöhten Chlorexposition anzusehen.
Berliner Verkehrsbetriebe: Psychotherapie für U-Bahn-Fahrer
Mit Urteil vom 17. Dezember 2009, L 2 U 1014/05, hat der Senat entschieden, dass einem U-Bahn-Fahrer der Berliner Verkehrsbetriebe aufgrund eines Fahrgastunfalls gegenüber dem Träger der Unfallversicherung ein Anspruch auf Gewährung psychotherapeutischer Behandlung zusteht. Der Kläger hatte als Zugfahrer bereits wiederholt Fahrgastunfälle erlebt, bei denen sich Personen in selbstmörderischer Absicht vor seinen Zug geworfen hatten und überrollt worden waren. Später war er Zeuge eines weiteren tödlich endenden Fahrgastunfalls. Im Jahre 1999 nahm er schließlich eine Person auf den U-Bahn-Gleisen wahr, die sich auf den Gleisen auf den Zug zu bewegte. Zu einem Unfall kam es indessen nicht. Der Kläger erlitt einen Schock und war aufgrund einer akuten Belastungsreaktion arbeitsunfähig. Mit dem Träger der Unfallversicherung bestand in der Folgezeit Streit über die Frage, ob der Kläger sich die Person auf den Gleisen gegebenenfalls nur eingebildet und welches Ausmaß sein psychisches Leiden habe.
Im Wege der Klage stritt der Kläger nun um seinen Anspruch auf Gewährung einer Psychotherapie zur Heilung seiner psychischen Leiden. Es kam zur Erstellung mehrerer fachärztlicher Gutachten. Während das Sozialgericht Berlin den Anspruch verneint hatte, verurteilte das Landessozialgericht den Träger der Unfallversicherung zur Gewährung einer traumaspezifischen Psychotherapie von bis zu 100 Stunden. In dem Ereignis der Jahres 1999 liege ein Arbeitsunfall. Die unmittelbare und höchste Gefahr, erneut eine Person zu töten, habe zu einem Gesundheitsschaden in Gestalt einer posttraumatischen Belastungsstörung geführt.
Info:
Das gemeinsame Landessozialgericht als Berufungs- und Beschwerdeinstanz besteht seit dem 1. Juli 2005 und damit seit bald fünf Jahren. Zu den gemeinsamen Einrichtungen der Länder Berlin und Brandenburg, darunter vier Obergerichte, siehe www.berlin-brandenburg.de/Gemeinsame Gerichte. Eine große Anzahl von Entscheidungen des Gerichts ist abrufbar unter www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de („juris Bürgerservice“).
Für Rückfragen:
Axel Hutschenreuther, Pressesprecher, Tel.: 0331-9818-4148 / 4133 Mail: pressestelle@lsg.brandenburg.de Internetseite: www.lsg.berlin.brandenburg.de